Sibylle, 57, selbständig

Der unglaubliche Leidensweg meiner Mutter, ich kann ihn heute noch nicht fassen. Aber ich finde wichtig, dass bekannt wird, wie Familien auseinandergerissen wurden und vor allem, wie unverantwortlich man mit kranken Menschen umging.

Es begann mit einem Unfall – meine Mutter war in ihrer Wohnung gestürzt. Als der Notarzt kam, konnte sie nicht mehr stehen und hatte starke Schmerzen im Bein. Er sagte ihr, sie solle die Nacht abwarten. Am nächsten Morgen litt sie immer noch unter starken Schmerzen. Die ambulante Pflege riet ihr, erneut den Notarzt zu rufen und im Krankenhaus klären zu lassen, was ihr fehlt. Dort herrschte striktes Besuchsverbot.

Kein Platz für Patienten

Freitagabend brachte der Notarzt meine Mutter in die nächstgelegene Klinik; nach einer kurzen Untersuchung und der Diagnose “alles ok” wurde sie weiter transportiert, in eine orthopädische Klinik. Der Grund: Im anderen Krankenhaus wurden die Plätze für „mögliche Coronapatienten“ freigehalten.

Samstag rief ich in der Klinik an. Meine Mutter hatte kein Telefon auf ihrem Zimmer; die Krankenschwester meinte, sie darf den Hörer nicht weitergeben und hat keine Zeit, meiner Mutter das Telefon einzurichten. Ich bekam die Auskunft, es gehe ihr gut und man versuche, sie zu mobilisieren. Mein Bruder brachte ihr dann eine Tasche mit Kleidung und Geld fürs Telefon. Als ich abends wieder auf der Station anrief, hieß es, das Geld, das mein Bruder gebracht hatte, war nicht gefunden worden! Und ohne Geld keine Telefonate. Zur Diagnose dürfe man nichts sagen, nur der Arzt darf Auskunft geben.

Sonntag bestand ich darauf, meiner Mutter doch bitte ein Telefon einzurichten. Wieder wurde ich vertröstet. Am Nachmittag hatte meine Mutter dann endlich Telefon, aber schien sehr verwirrt. Ein Arzt sagte mir, es wäre nichts weiter, die Schmerzen kommen vermutlich vom Knie und sie werde weiterhin mobilisiert. Am nächsten Tag weinte und klagte meine Mutter über starke Schmerzen, noch immer wirkte sie sehr durcheinander.

Später erzählte sie mir, man mache Versuche, mit ihr zu laufen, was ihr aber sehr schwerfiel. Die Ärztin erklärte, Mutter soll am Ende der Woche die Klinik verlassen und dann evtl. in die Reha oder zur Kurzzeitpflege. Nach wie vor herrschte komplettes Besuchsverbot. Auch die Chefarztvisite am Donnerstag brachte keine neuen Erkenntnisse.

Durch alle Krankenhäuser

Freitag erhielt ich einen Anruf der Ärztin: Meine Mutter wurde ohne Absprache am Morgen in ein weiteres Krankenhaus zur Computertomografie gefahren. Ihre “Verwirrung” sollte diagnostiziert werden. Ganz nebenbei erfuhr ich dann den richtigen Befund: Nach einer ganzen Woche stellte man fest, dass meine Mutter einen Oberschenkelhalsbruch hatte! Sie wurde wieder zurück in die Orthopädische gebracht und von dort aus, zwei Stunden später, in eine Notfallklinik.

Wohin, das sagte man mir nicht. Samstagfrüh war die Operation und am Sonntag erlaubte mir die Krankenschwester ein Telefonat. Meine Mutter war völlig desorientiert. Sie wusste überhaupt nicht, was mit ihr geschehen war. Am Montag teilte mir der Arzt mit, alles sei gut verlaufen, ihr Oberschenkel wurde genagelt und sie darf das Bein mindestens drei Wochen gar nicht, und danach nur sehr wenig belasten. Dienstag wurde Mutter in eine weitere Klinik verlegt, die vierte?

Nachdem der schmerzhafte Bruch des Oberschenkels nun tatsächlich nach einer ganzen Woche operiert worden war, wurde sie Tage später in das fünfte Krankenhaus gebracht. Dort blieb sie dann drei Wochen. Auch dort durfte ich sie nicht besuchen. Zu wissen, dass es meiner Mutter so schlecht geht und ich sie nicht einmal umarmen und trösten kann, war unerträglich. Die Schwester erklärte mir, sie hätten dort nicht die Kapazitäten, um Mutter zu mobilisieren, aber sie schauen zwei bis dreimal am Tag nach ihr.

Auffanglager ohne Ärzte

Mehr sei nicht möglich, denn sie wären ein Auffanglager für alle, die in den normalen Krankenhäusern nicht bleiben konnten, weil die Stationen freigeräumt werden – für eventuelle Coronapatienten!

Es kamen schwerkranke und sterbende Patienten, die dort eigentlich nichts verloren hatten. Und man hatte weder die Kapazitäten, sich um die Kranken zu kümmern, noch die Kompetenz. Ja, sie hatten nicht einmal einen Arzt! Aus den angrenzenden Kliniken schauten je nach Möglichkeit Ärzte vorbei, feste Ansprechpartner gab es nicht. So lange Reha- und Pflegeeinrichtungen einen Aufnahmestopp hatten, kamen alle diese Patienten zu ihnen.
Zwei Wochen später wurde meine Mutter spontan in die Reha verlegt, denn das “Auffanglager” wurde geschlossen.  All das erlebte ich auf die erzwungene Distanz hin mit und bangte täglich. In der Reha durfte ich sie zum ersten Mal besuchen.

Hinter Plexiglas mit Maske

Nach zwei Wochen war es so weit. Mir fällt es heute noch schwer, darüber zu sprechen, wie weh es tat, meine Mutter so wiedersehen zu müssen. Sie saß im Rollstuhl in einem Raum, ich wurde in den Nebenraum gesetzt. Die Durchgangstür war durch mehrere Tische verstellt. Auf allen Tischen standen Plexiglasscheiben. So saß ich dann in dem einen Raum, eine Pflegerin dicht hinter mir, und meine Mutter mir gegenüber im anderen, auch hinter ihr saß eine Pflegerin.

Es herrschte Maskenpflicht! Meine Mutter hat mich erst gar nicht erkannt – erst, als ich kurz die Maske hinunterschob. Als sie mich ansah, begann sie spontan zu weinen und fragte, warum ich denn nicht neben ihr sitzen darf? Die gefühlskalte Reaktion der Pflegerin: “Frau … Sie wissen doch, wir haben Corona!“
Dieser traurige Besuch wurde harsch nach zwanzig Minuten durch dieselbe Pflegerin beendet: „Es warten schon die nächsten vor der Tür!”

Besuche nur mit Impfausweis

Ende Juli konnte Mutter weder alleine gehen noch stehen. Zudem war sie völlig verwirrt und wusste nicht, wo sie ist.  Wir beschlossen als Familie, sie in ein anderes Pflegeheim zu verlegen. Dies geschah dann auch – im September. Besuche ab Oktober waren nur mit Test, Maske und nach vorheriger Anmeldung erlaubt.  Ab März 2021 durfte ich dann mit Impfausweis, Test und Maske zu ihr. 2022 war es möglich, “nur“ mit negativem Test das Heim zu betreten. Es war ungeheuerlich.

Hinzu kam eine regelmäßige “Zimmerquarantäne” der Bewohner und ein Besuchsverbot bei positivem Test während der gesamten Zeit, bis zum Herbst 2022. Was meine Mutter in ihrer Not und Einsamkeit durchmachen musste, und wie schwer die Unsicherheit, die Einsamkeit auf uns lasteten in dieser Zeit, das kann ich kaum in Worte fassen.
Zum Glück ist meine Mutter zäh und hat die ganze Tortur überstanden. Bis heute kann sie weder alleine gehen, noch aufstehen und leidet an Altersdemenz. Im September feierten wir ihren 89. Geburtstag.