Katharina, 62, Softwareentwicklerin

Meine Mutter wurde vor fünf Jahren durch einen Schlaganfall aus ihrem selbstbestimmten, weitgehend gesunden Leben gerissen. Seitdem ist sie ein Pflegefall – sie ist halbseitig gelähmt und hat ihre Sprache komplett verloren. Auch leidet sie seitdem unter fortschreitender Demenz und allerlei Folgeerkrankungen. Nach einem Jahr häuslicher Pflege bei mir zog sie in ein Pflegeheim um. Ich besuchte sie dort nahezu täglich nach der Arbeit. Sie saß immer schon am Fenster, wenn ich von der U-Bahn kam und rollte mir mit ihrem Rollstuhl auf dem Flur entgegen. Ich räumte ihren Schrank auf, goss die Blumen, brachte neue Blumen mit, zeigte ihr Fotos, spielte Mensch-Ärgere-Dich-Nicht mit ihr, überprüfte den Vorrat an Toilettenartikeln oder hielt ihr einfach nur die Hand, wenn sie schlief. Auch die Enkeltöchter schauten immer mal wieder spontan vorbei. Es war in ihrer schrecklichen Situation doch noch ein kleines bisschen Glück und Lebensfreude, das man ihr geben konnte.

Als Anfang 2020 die Berichte über Corona immer dramatischer wurden, machte ich mir natürlich auch um Mutter Sorgen, desinfizierte mir immer vorher brav die Hände und habe sie dann nicht einmal mehr umarmt, aus Sorge vor Ansteckung. Ich habe das damals alles noch ernst genommen und alles geglaubt. Riesig war der Schock, als ich am 13.03.2020 plötzlich vor dem verschlossenen Eingang stand und nicht mehr eingelassen wurde. Ohne Vorwarnung, ohne mich von Mutter verabschieden zu können, durfte ich plötzlich nicht mehr zu ihr.

Fotos und Einsamkeit

Ich heulte Rotz und Wasser, weil es mir so leidtat, sie nicht einmal mehr zum Abschied umarmt zu haben. Meine Angst, dass sie das nicht verstehen und verkraften würde, wuchs täglich. Am Folgetag gab ich an der Pforte für Mutter einen Brief mit aufmunternden Worten, Pralinen und einem Foto von ihren Enkelinnen und mir ab, mit der Bitte, ihr das vorzulesen. Ein lieber Pfleger hat mich dann nachmittags angerufen und mir erzählt, dass er alles vorgelesen und erklärt hat. Er berichtete auch ehrlich, dass meine Mutter daraufhin bitterlich geweint hat.

Ich versorgte sie von nun an regelmäßig mit kleinen Geschenken, Fotos und Postkarten – immer im Zweifel, ob ich sie jemals wiedersehen werde. Ab und zu hat eine Pflegekraft meiner Mutter das Telefon gegeben, damit ich zu ihr sprechen konnte. Eine Unterhaltung war wegen ihrer Aphasie unmöglich. Meine Stimme hat sie aber immer beruhigt. Ansonsten wusste ich überhaupt nicht, wie es ihr ging.

Ich konnte sie nicht trösten

Am 04.04.2020 bekam ich einen Anruf vom Heim, dass Mutter einen gebrochenen Arm und starke Schmerzen hat und deshalb ins Krankenhaus gebracht wurde. Keiner konnte sagen, wie das hatte passieren können. Ich durfte weiterhin nicht zu ihr, sie musste das ganz allein durchstehen. Der Arm wurde nicht operiert, nur geschient, und Mutter wurde alle zwei Wochen zur Nachuntersuchung gefahren. Damals waren die Regeln so, dass nach jedem Arztbesuch außerhalb des Heims zwei Wochen Zimmerquarantäne Vorschrift waren.

Das hieß: Essen nur auf dem Zimmer, kein Kontakt zu anderen Heimbewohnern, und nur vollmaskierte Pfleger betraten ab und zu den Raum. Wie verloren muss sich meine Mutter mit all den Schmerzen und der Einsamkeit gefühlt haben! Niemand konnte sie trösten. Am 21.04.2020 durfte sie dann endlich die Zimmerquarantäne wieder kurz verlassen – bis zur nächsten Nachuntersuchung für den Arm. Dann wurde sie wieder isoliert.

Anfang Mai waren dann endlich nach zwei Monaten Totalisolation wieder Besuche erlaubt: Eine Person pro Woche für jeweils 30 Minuten, nach Terminvergabe. Mit Abstand, Maske und unter Aufsicht. Ich vereinbarte gleich den ersten Termin für den 09.05.2020. Unser erstes Wiedersehen nach fast zwei Monaten Trennung! Aus dem Termin wurde dann doch nichts. Man sagte ihn noch am selben Tag vormittags ab, da Mutter am Vortag nochmal bei der Nachuntersuchung wegen ihres gebrochenen Arms war und somit wieder in Zimmerquarantäne musste. Welche Enttäuschung! Der neue Termin war dann der 22.05.2020.

Wie Schwerverbrecher

Das Bild werde ich nie vergessen. Man setzte uns gegenüber, getrennt durch einen 2-Meter-Tisch, mitten in die leer geräumte Cafeteria. Nicht einmal Geschenke durfte ich ihr geben. Eine Aufsichtsperson wachte streng über das Abstandsgebot, alle Gesichter waren hinter Masken verborgen. In dieser demütigenden Situation waren wir nicht allein. Da saßen sie, nach zwei Monaten Isolation, all die schwerhörigen, dementen Omas und Opas und versuchten, ihre Angehörigen wiederzuerkennen. Eine Unterhaltung war wegen der Akustik im Raum und den Abständen und Masken auch für die fitteren unter den Senioren kaum möglich. Von Privatsphäre ganz zu schweigen. Es war so unwürdig. So stellt man sich den Besuch bei einem Schwerverbrecher in einer Justizvollzugsanstalt vor. Aber da saß meine Mutter! Blass, abgemagert, verstört.

Ende Juni 2020 war es dann endlich so weit, dass ein Verlassen des Heims gestattet wurde. Vorher durfte niemand das Haus verlassen, nicht einmal für einen Spaziergang. Die Auflagen waren streng. Man musste unterschreiben, dass man mit keiner anderen Person draußen Kontakt hat und die Maske niemals absetzt. Ich ging natürlich oft mit Mutter spazieren. Kaum ums Eck herum, waren die Masken weg und wir umarmten uns fest. Selbstverständlich trafen wir uns dann öfter auch mit den Enkeltöchtern. Besuche im Zimmer war immer noch nicht erlaubt und die Gefängnisatmosphäre im Besucherraum taten wir uns nicht mehr an.

Leider waren unsere Spaziergänge immer wieder verhindert, weil Mutter immer öfter aus dem Rollstuhl stürzte oder nach der Gabe von Schlafmitteln den ganzen Tag tief schlief. Die Personalnot im Heim muss gravierend gewesen sein. Die Ansprechpartner wechselten ständig oder es war zeitweise niemand erreichbar. Niemand kannte sich aus, wenn man Fragen hatte. Mutter wirkte oft sehr ungepflegt, seit langem ungeduscht, unpassend angezogen. Ich möchte gar nicht wissen, was sie alles erleiden musste. Sie konnte ja nichts erzählen. Man merkte nur, wie sehr sie litt …


Das ist der Beginn von Katharinas Geschichte – wie es mit ihrer Mutter weiterging, berichten wir im zweiten Teil …